„Wow, lecker! Schön hier!“

Fernreisen fallen in diesem Jahr aus und die Menschen entdecken das regionale Reisen wieder für sich. Das Bedürfnis, etwas anders zu machen, besser zu machen, klimabewusster zu leben, ist auch in Bezug auf Lebensmittel gestiegen. Im Gespräch reden WOCHENENDER-Gründerin Eli Frenz und Mutterland-Gründer Jan Schawe über Genuss, Fake-Ökologie und nächtliche Besuche bei McDonald’s.

Protokoll: Nikolai Antoniadis

Fotos: WOCHENENDER, Mutterland, Uta Gleiser

ELI: Die Sonne scheint, Corona klingt langsam ab. Wenn alles gut geht: Willst du dieses Jahr noch in den Urlaub fahren?

JAN: Ich wollte eigentlich nach Helgoland oder genauer gesagt, auf die Nachbarinsel, fünf Minuten mit der Fähre von Helgoland. Da hat jemand Papierhäuser gebaut, sehr nachhaltig, außerdem direkt am Strand, bei den Robben. Kein Internet, nicht mal WCs in den Häusern. Wenn du abends essen gehen möchtest, wird das schwierig. Da wäre ich jetzt, ohne Corona, mit einem Buch und meinem iPad. Aber im Mai durfte ich nicht auf die Fähre. Im Augenblick sieht es eher so aus, als ob ich eher Ausflüge als Urlaub mache.

ELI: Hast du nach Corona nicht genug von Ruhe und Abgeschiedenheit?

JAN: Das habe ich mich auch gefragt. Brauche ich noch eine Woche Einsamkeit? Aber nun ist es ja eh nicht zustande gekommen. Ansonsten hatte ich Dänemark auf dem Zettel. Meine Mutter ist Dänin, und Dänemark ist für mich immer ein bisschen wie Heimat. Ich finde es auch sehr angenehmen, kurz in den Zug oder ins Auto zu steigen und schnell anzukommen.

ELI: Fliegst du viel außerhalb Europas?

JAN: Fernreisen mache ich selten! Allerdings setze ich mich auch mal in den Flieger, wenn auch nicht mehr so häufig wie früher. Ich war jahrzehntelang im Designbereich tätig, da saß ich jeden zweiten Tag im Flugzeug. Durch Mutterland habe ich aber heute überwiegend mit regionalen Manufakturen zu tun, da bewege ich mich hauptsächlich in einem 50-Kilometer-Radius, die meiste Zeit wahrscheinlich sogar in einem Drei-Kilometer-Radius. Ich wohne auch noch in der Nähe von meinen Geschäften.

Mein Radius ist so klein, das ist fast schon langweilig.”
— Jan Schawe

ELI: Also Fahrrad statt Flugzeug.

JAN: Mein Radius ist so klein, das ist fast schon langweilig, in Hamburg lebe ich manchmal wie in einer Seifenblase. Aber wie gesagt ich fliege auch. Ich liebe zum Beispiel die Malediven, ich gehe sehr gerne schnorcheln und liebe die Tierwelt. Mir ist natürlich klar, was ich anrichte, wenn ich fliege. Deshalb leiste ich jedes Mal eine Emissionsspende, mit der man das CO2, das man beim Fliegen verursacht, durch Geld ausgleicht – um mein Gewissen etwas zu reinigen. Ich merke auch, dass die Seele nicht so schnell reist wie der Körper. Wenn man eine Woche irgendwo ist, erlebt man diesen Ort gar nicht. Ich finde es angenehmer, weniger zu verreisen oder eben regionaler. Außerdem: Wenn ich nach einem Acht-Stunden-Flug wiederkomme und am nächsten Tag arbeiten muss, brauche ich danach erst mal Urlaub! Wie ist es das bei Dir?

ELI: Ich habe eine klassische Patchwork-Familie, großer Haushalt, viele Kinder. Reisen ist da immer schwierig und teuer. Und ich muss gestehen: Ich habe das sehr lange sehr schlecht gemacht. Wir sind zum Beispiel mit einem Billigflieger nach Barcelona geflogen, und dann von da an irgendeinen Strand. Das machen wir nicht mehr. Die Kinder haben wahnsinnig Druck gemacht, mit dem Fliegen aufzuhören. Wir bleiben in der Region und versuchen, nur noch alle drei Jahre irgendwohin zu fahren, aber nicht mehr mit dem Billigflieger, sondern mit Bahn, Bus oder Mietauto. Ich habe dann auch mit meinen Büchern das Regionale für mich entdeckt. Ich hätte nie gedacht, dass ich plötzlich Boltenhagen schön finde!

Ich habe eine klassische Patchwork-Familie, großer Haushalt, viele Kinder. Reisen ist da immer schwierig und teuer.
— Eli Frenz

JAN: Wie hast du den Norden für dich entdeckt?

ELI: Ich bin an einem Wohnprojekt an der Nordsee beteiligt. Zuerst fand ich das etwas schwierig, weil da nichts ist: plattes Land, das Essen ist nicht so doll, das Obst schmeckt weniger süß, und die Menschen sind auch nicht so herzlich wie in Südfrankreich. Ich habe mich aber nach und nach daran gewöhnt und es lieben gelernt, diese Weite, diese grandiose Landschaft. Es gibt wunderschöne Ecken, und davon wollte ich auch andere überzeugen. So habe ich das erste Buch gemacht. Und dann habe ich gedacht: Jetzt mach ich noch eins über die Ostsee. Und dann noch eins über die Elbe. Und noch eins, und noch eins.

JAN: Die letzte Jahre und auch durch Corona ist alles anders geworden. Die meisten überlegen sich, ob sie überhaupt noch in den Flieger steigen oder ob sie vielleicht besser in Europa reisen sollten. Wie wird das dieses Jahr? Werden die schönen Ecken hier im Norden jetzt überrannt?

ELI: Ich glaube, dass die Angst, der Massentourismus komme in die Region, berechtigt ist. Die Leute haben ihre drei, vier Wochen Urlaub, und sie werden irgendwohin fahren wollen. Das ist aber kein spezifisches Problem der Nord- oder Ostsee, sondern das gilt auch für Bayern oder für Brandenburg. Ich sehe das eher als Chance, gerade für schwache Regionen wie Dithmarschen. Weil auch junge Leute kommen werden, und die werden sagen: Ziemlich schön hier! Ich muss nicht in die Türkei fliegen oder nach Spanien. Der Strand in Boltenhagen ist super, das ist fast wie in der Karibik, es fehlen nur die Palmen. Und es kann schon mal regnen, aber sonst…

Mein Hund, Norderney und ich, der Regen und der Wind. So erholt habe ich mich selten!
— Jan Schawe

JAN: Ich bin in letzter Zeit auch öfter an der Nord- und Ostsee gewesen. Im letzten Jahr war ich zum ersten Mal auf Norderney, im Januar. Ich glaube, ich war der einzige Gast. Mein Hund, Norderney und ich, der Regen und der Wind. So erholt habe ich mich selten!

ELI: Ich springe mal vom Massentourismus zu Massenprodukten. Meinst du, dass die Leute mit Corona noch mehr als vorher auf ökologische und regionale Lebensmittel achten? Wie nimmst du das bei dir im Mutterland wahr, du hast ja nur regionale Produkte.

JAN: Ich habe vor 13 Jahren mit Mutterland angefangen, mich auf regionale Lebensmittel zu spezialisieren. Warum muss Mineralwasser in Containerschiffen über den Planeten transportiert werden? Warum soll man Obst und Gemüse nicht saisonal und regional kaufen? Ich fand es immer schon ein bisschen albern, wenn man Äpfel aus Neuseeland anbietet, und daneben liegen Äpfel aus Schleswig-Holstein. Als ich damals gesagt habe, dass ich ein Delikatessengeschäft aufmachen möchte, das auf Regionalität und kleine individuelle Betriebe setzt, haben mich alle für verrückt erklärt: Regionalität? Glaubst du, alle wollen den ganzen Tag Kartoffeln und Äpfel essen?

Ich fand es immer schon ein bisschen albern, wenn man Äpfel aus Neuseeland anbietet, und daneben liegen Äpfel aus Schleswig-Holstein.
— Jan Schawe

ELI: Oder Kohl aus Dithmarschen.

JAN: Ich erinnere mich gut, wie mich damals eine Molkerei von ihrem Messestand gescheucht hat, als ich von dem Konzept erzählt habe.

ELI: Warum hast du das trotzdem durchgezogen?

JAN: Weil das immer schon mein persönlicher Lebensstil war. Einerseits liebe ich Tiere und die Natur und andererseits bin ich ein Genießer. Wie bereits erzählt, ich liebe das Schnorcheln, aber wenn ich nach Asien fliege, um dort die buntesten Fische zu sehen, mache ich alles kaputt, indem ich in ein Flugzeug steige und dann in einer Hotelanlage sitze, wo Coca-Cola in Dosen serviert wird. Ich habe überlegt, es müsse möglich sein – egal ob mit Essen, Kleidung oder Reisen –, die Dinge mehr in Einklang zu bringen. Warum soll man nicht genießen und gleichzeitig bewusst ökologisch leben können?

ELI: Du bist in Deutschland Pionier für dieses regionale Konzept.

JAN: Mit wenigen anderen. Es gab ja schon vorher Reformhäuser und Hofläden.

ELI: Die sind aber nicht cool.

JAN: Wenn ich früher in ein Reformhaus gegangen bin, war mir das alles zu gesund, es hat ein bisschen merkwürdig gerochen und war total spaßbefreit. Deshalb war mir bei Mutterland wichtig, dass Kunden reinkommen und als Erstes denken: Wow, lecker, sieht toll aus, macht irgendwie Freude, hier zu sein – dann aber auch erkennen, dass Bauern von uns nicht ausgebeutet werden, dass bei uns keiner reich wird, wir aber für unsere Rohstoffe und Produkte deutlich fairer zahlen als die meisten Industrieunternehmen.

ELI: Am besten bei Mutterland finde ich den Namen. Wie bist du darauf gekommen?

JAN: Einerseits durch die Vorstellung von Heimat: Wir hätten auch Vaterland nehmen können, aber das klingt etwas sehr politisch aufgeladen, das wollte ich überhaupt nicht. Andererseits kommt mir Liebe und Umsorgen in den Sinn. Ich will mit Mutterland kein stereotypes Frauenbild erzeugen, aber man hat ja ein bisschen die Mutter im Kopf, die einen umsorgt. Am Anfang hat der eine oder andere Kunde sogar gedacht, dass wir Babymode verkaufen.

ELI: Der Zukunftsforscher Matthias Horx sagt, man habe die größten Chancen mit regionalen Produkten, wenn es gelinge, eine Beziehung zu den Menschen aufzubauen. Das gelingt dir auch mit dem Namen Mutterland.

Immer weniger haben Lust auf diesen 08/15-Pauschalurlaub und diese stumpfen Abläufe: an den Strand, danach ans Buffet, dann an den Pool.
— Eli Frenz

JAN: Das ist dasselbe, was du mit deinen Reisebüchern vermittelst. Die Geschichten hinter einem Restaurant, einem Hotel oder einem Dorf, die man nicht sofort erkennt. Man will mehr darüber erfahren, und das will man bei meinen Produkten auch.

ELI: Ich glaube, dass Menschen, wenn sie regional verreisen oder Dinge aus der Region kaufen, immer auch eine Beziehung aufbauen wollen. Immer weniger haben Lust auf diesen 08/15-Pauschalurlaub und diese stumpfen Abläufe, an den Strand, danach ans Buffet, dann an den Pool. Wie du und ich gehen sie gern zum Italiener um die Ecke, weil der uns kennt. Der Koch weiß, dass ich keinen Essig mag oder keine Zwiebeln. Deshalb fühlt man sich da wohl.

JAN: Sind das Gesichtspunkte, nach denen du Tipps in deinen Reisebüchern vergibst?

ELI: Auf jeden Fall. Das sind meistens kleine Lokale, kleine Betriebe, die nicht bekannt sind, meistens von jungen Leuten betrieben, die dann natürlich wieder andere junge Leute anziehen.

JAN: Und wie findest du diese ganzen Geheimtipps?

ELI: Oft durch Zufall. Ich gehe zum Besitzer und frage ihn: Wo gehst du normalerweise hin? Der reicht mich weiter: Da hinten, da lebt eine Hebamme, die hat ein ganz tolles Ferienhaus saniert, schau dir das mal an. Ich klingele bei der Hebamme und sage: Dein Nachbar hat mir von dir erzählt, hast du nicht Lust, bei meinem nächsten Buch mitzumachen? Danach frage ich sie: Wo gehst du gern essen, wo ist dein Lieblingsstrand? Und sie erzählt mir, ihr Mann habe ihr gerade die Austernbänke auf Eiderstedt gezeigt.

JAN: Das hört sich sehr familiär an.

ELI: Du machst das im Grunde ja genauso. Pflegst du die Beziehungen zu den Menschen, die hinter den Produkten stehen?

JAN: Am Anfang habe ich das sehr viel gemacht. Es ist im Delikatessenhandel verbreitet, dass beim Großhändler über einen Katalog bestellt wird. Mein Konzept war aber immer, nur die Manufakturen auszuwählen, die noch kein Großhändler im Programm hatte. In den ersten Jahren hatten wir 80 Prozent der Manufakturen und Produkte in unserem Sortiment exklusiv. Deshalb haben wir die auch alle aufgesucht; wir haben Geschmacksmuster bekommen und probiert. Irgendwann hat man aber die beste Marmelade, den besten Obstbrand oder die leckerste Schokolade gefunden, dann bleibt man bei seinen Lieferanten. Einige habe ich wirklich seit Anfang an, die sind mir richtig ans Herz gewachsen. Allerdings ist Mutterland in den letzten Jahren auch größer geworden. Ich habe mittlerweile 80 Mitarbeiter. Da kommt es schon mal vor, dass ich tagelang nur Zahlen angucke, um Krisen wie etwa Corona zu überstehen.

ELI: Inzwischen produzierst du auch selbst.

Wir versuchen, so nachhaltig wie möglich zu sein. Keiner ist perfekt! Wenn ich in einer Bar war und ein paar Drinks zu viel hatte, gehe ich auch mal nachts zu McDonald’s.
— Jan Schawe

JAN: Im Schokoladenbereich ist nicht alles Gold ist, was glänzt. Es ist sehr schwierig sicherzugehen, dass – wenn die Kakaobohne aus Afrika kommt – nicht in Kinder- oder Sklavenarbeit involviert ist. Deshalb haben wir entschieden, Schokolade selbst zu produzieren. Unsere Hafenschokoladen werden zum Beispiel von uns in Hamburg nach dem „Bean-to-Bar-Prinzip“ produziert – wir waren selber in Indonesien und haben die Plantagen dort besucht und achten darauf, dass kein Soja in unserer Schokolade ist. Außerdem haben wir vor etwa fünf Jahren noch eine Bäckerei aufgemacht. Ich möchte Mehl aus der Region, ebenso Milch, Eier, Butter, Sahne.

ELI: Was du produzierst, ist nachhaltig?

JAN: Der Begriff wird ein bisschen überstrapaziert. Nachhaltig ist, wenn man nichts kauft und nichts konsumiert. Wir versuchen, so nachhaltig wie möglich zu sein. Keiner ist perfekt! Wenn ich in einer Bar war und ein paar Drinks zu viel hatte, gehe ich auch mal nachts zu McDonald’s. Ich will sagen, auch bei Mutterland ist nicht alles perfekt. Zum Beispiel benutzen wir Kaffee-to-go-Becher. Es wäre sicherlich nachhaltiger, wir hätten die nicht. Aber wir achten wenigstens darauf, dass die Becher aus Deutschland kommen, dass die Innenfolie der Becher aus Maisstärke ist und die Becher biologisch abbaubar sind. Außerdem bringt inzwischen die Hälfte unserer Kunden ihren eigenen Kaffeebecher mit, wenn sie in der Nachbarschaft leben. Der Kaffee wird dann auch von uns als Belohnung günstiger verkauft. Abgesehen davon nehme ich auch nicht jeden Food-Trend mit, ich habe zum Beispiel keine Avocados, weil die nicht regional und auch aus anderen Gründen umstritten sind.

ELI: Ich finde, dass ihr euch sehr gut inszeniert. Ihr seid liebevoll eingerichtet, die Verpackungen sehen toll aus. Das ist ähnlich wie bei unseren Büchern.

Unser nächstes Buch widmet sich eben diesem Thema: Hofläden und Manufakturen um Hamburg. Da zelebrieren wir Genuss und Kunsthandwerk
— Eli Frenz

JAN: Ja, aber als ich vor 13 Jahren angefangen habe, gab es auch noch nicht so viele tolle Manufakturen in Deutschland. Das Denken hat sich gewandelt. Regionalität, Ökologie – es gab keine Greta und keine Fridays for Future. Ich kenne viele, interessanterweise aus Werbung und Marketing, die heute sagen: Wir wollen das nicht mehr. Wir wollen was machen, worauf wir stolz sind. Die fangen dann an, Brotaufstriche herzustellen oder Obstbrände zu destillieren. Auf der anderen Seite bedeutet es für mich ein besseres Sortiment, aber auch mehr Wettbewerb, wenn im Fernsehen jeder Styropor-Schokoriegel liebevoll per Hand zubereitet wird. Mit den Verpackungen ist es genauso: Man sieht überall Zitronen oder Erdbeeren, und in Wirklichkeit sind gar keine drin oder zumindest nicht geschmacksgebend. Das ist Fake und macht es für uns nicht leichter zu erklären, dass es Unterschiede zwischen dem einen und dem anderen Produkt gibt. Wie geht es denn bei euch weiter?

ELI: Unser nächstes Buch widmet sich eben diesem Thema: Hofläden und Manufakturen um Hamburg. Da zelebrieren wir Genuss und Kunsthandwerk – Obst und Gemüse direkt vom Feld, Milch und Eier von glücklichen Tieren, duftendes Brot aus eigenen Korn. Aber auch handbemalte Fliesen, Keramik, Möbelunikate und Schmuck aus kleinen Manufakturen. Da freue ich mich schon sehr auf Tipps von dir!

JAN: Die bekommst du!

ELI: Jan, es war schön mit dir! Auf ganz bald!